18.
Am nächsten Morgen bekam Simon Julia nicht zu Gesicht, weil er mit dem alten Mann schon früh in die Berge fuhr, um Holz für den Winter zu schlagen. Es war noch heißer als in den Tagen zuvor und er hörte Boyd bei jedem Handgriff ächzen.
In der Mittagszeit machten sie Siesta in einem schattigen Tal und normalerweise hätte Simon diese Zeit genossen. Diesmal war er unruhig. Er fieberte dem Abend entgegen, weil er dann wieder mit Julia zusammen sein konnte. Und er hoffte, dass es ihr ebenso ging.
Als sie auf die Ranch zurückkamen, saßen Ada, Julia und Tommy schon beim Essen in der Küche. Simon spürte, wie er ruhig wurde, wenn er Julia nur ansah. Sie lächelte ihm verstohlen zu.
Ada hatte Nudeln gekocht, allerdings etwas zu lange, sodass aus dem Ganzen ein wenig appetitlicher Klumpen geworden war. Dazu gab es Tomatensuppe aus der Dose.
Während sie aßen, ließ Ada verlauten, dass sie wichtige Post erwartete und noch nach Eldora Valley zum Postamt fahren müsse.
»Ich k-k-kann das erledigen«, sagte Simon und blickte fragend zu Julia hinüber. Vielleicht würde sie mitkommen.
Die alte Frau gab ihm den Schlüssel von ihrem Postfach. »Nimm den Truck«, sagte sie.
Der alte Mann sah, wie Simon nach dem Schlüssel griff. »Fährst du in den Ort?«, fragte er.
Simon nickte.
»Dann nimm den Greifer der Heuballenpresse mit, Cowboy. Ein Teil ist abgebrochen und Frank hat versprochen, es zu schweißen. Wir müssen das Heu einholen. Bald kommt Regen.«
»Wenn du wartest, bis ich mit dem Abspülen fertig bin, komme ich mit«, sagte Julia zu Simon.
Er strahlte sie an. »Ich lade den Greifer auf den Truck und warte draußen auf dich, okay?«
»Nun verschwinde schon«, sagte Ada zu Julia. »Ich kümmere mich um das Geschirr.«
In Eldora Valley hielt Simon am Postamt und leerte Adas Postfach. Danach fuhren sie in die Siedlung zu Frank. Sein Hof glich eher einem Schrottplatz als einer Reparaturwerkstatt. Überall standen ausgeschlachtete Fahrzeuge herum, vom Sportwagen bis zum Traktor. Als Julia aussteigen wollte, hielt Simon sie zurück. »Bleib lieber im Auto. Frank hat einen riesigen Dobermann, der ist auf Fremde nicht gut zu sprechen. Und ich weiß nicht, ob er an seiner Kette ist.«
Schnell schlug Julia die Tür wieder zu. Frank hatte sie bereits entdeckt und kam aus seiner Werkstatt. Splash, sein Hund, rannte auf Simon zu und sprang an ihm hoch. Der Dobermann war auch Simon nie ganz geheuer gewesen, aber er klopfte ihm den Hals und der Hund ließ es sich gefallen.
Frank pochte lachend an Julias Fenster und nickte ihr zu. Dann lud er mit Simon das Maschinenteil vom Truck und brachte es in die Werkstatt. Eine Weile diskutierten sie noch, dann kehrte Simon zu Julia zurück.
»Ich k-önnte einen Hamburger vertragen«, sagte er, als er wieder neben ihr im Pick-up saß. »Das Essen war scheußlich heute.«
Julia lächelte: »Willst du mit mir ausgehen?«
»Kann man so sagen.«
Simon parkte den Truck vor Ann’s Restaurant, einem lang gezogenen rot gestrichenen Holzschuppen, aus dem Countrymusik dudelte. Drinnen war das Lokal in einen Bereich mit Billardtischen und den Gastraum unterteilt. Sämtliche Billardtische waren in Benutzung, aber im Gastraum saßen nur ein älteres Pärchen und vier junge Männer, die Teller mit riesigen Pommesbergen vor sich hatten.
Simon schoss durch den Kopf, dass es möglicherweise ein Fehler gewesen war, mit Julia hierherzukommen. Ihr Gesicht war in Eldora Valley so gut wie unbekannt. Die Männer in Ann’s Lokal starrten sie jetzt unverfroren an und rissen Witze über sie und Simon. Die meisten von ihnen waren Minenarbeiter, raue Kerle, die in provisorischen Unterkünften lebten.
Doch Julia schien es kaum zu kümmern, dass man über sie redete.
»Ich nehme an, Adas ausgebrannter K-K-Kombi ist Gesprächsthema Nr.1 in Eldora Valley«, sagte Simon, nachdem sie bei der wasserstoffblonden Ann zwei Hamburger, ein Mountain Dew und ein Wasser bestellt hatten.
»Irgendwann passiert etwas Neues und dann vergessen sie es«, erwiderte Julia.
»Ich hasse es, wenn alle mich anstarren.«
»Oh, mach dir da mal nichts vor. Sie starren mich an.«
Julia lachte und ihr Lächeln erhellte den Raum. Alles war so einfach, wenn er mit ihr zusammen war. Sie unterhielten sich, aßen ihre Hamburger, und nachdem Simon gezahlt hatte, brachen sie auf.
Als sie an den Billardtischen vorbeigingen, zischte ihnen ein tätowierter Blondschopf »Scheißdigger« hinterher. Simon merkte, wie Julia zusammenzuckte, und er schob sie nach draußen. Nur raus hier, dachte er, bevor es noch Ärger gibt. Das würde Ada ihm nie verzeihen.
Er atmete erleichtert auf, als sie auf dem beleuchteten Platz vor dem Restaurant standen und niemand ihnen folgte.
»Was war das denn?«
»Indianeralltag«, sagte er und legte einen Arm um Julias Schultern. »Mach dir nichts draus.«
»Ich dachte, diese Zeiten wären längst vorbei.«
»Sind sie n-icht. Aber ich habe keine Lust, mir von so einem den Abend verderben zu lassen. Fahren wir nach Hause. Deine Granny wartet sicher schon auf ihre Post.«
Simon küsste Julia und dachte, dass er sie später fragen wollte, ob sie noch eine Weile mit in seinen Wohnwagen kommen würde. Mit etwas Glück sagte sie vielleicht nicht Nein.
Doch auf dem Weg zum Pick-up liefen sie ganz unerwartet Jason und Ainneen in die Arme. Julias Halbbruder schwankte gefährlich und auch die junge Frau schien einigen Alkohol intus zu haben.
Simon zog Julia zum Truck.
»Hey«, rief Jason, »nicht so eilig ihr Turteltäubchen. Willst du deinem Bruder nicht Hallo sagen, Schwesterherz?«
»Hallo, Jason«, sagte Julia. »Hi, Ainneen.«
Jason lachte und Simon nahm die leise Spur von Feindseligkeit wahr, die in diesem Lachen mitschwang. Er wusste nicht, was geschehen würde, noch, was er tun sollte, um Ärger zu vermeiden.
»Schade, dass ihr schon gehen wollt, wir hätten sonst einen netten Abend zu viert haben können. Dann hätte mir mein Schwesterherz auch verraten können, wieso sie noch da ist. Vielleicht, weil sie sich von ihrem Romeo nicht losreißen kann.« Jason legte einen Arm um Ainneens Schultern und stützte sich schwer auf sie.
Simon zog erneut an Julias Hand.
»Hey, der Stotterheini hat es eilig, mit meinem Schwesterherz alleine zu sein.« Jasons Stimme klang schleppend, die Silben kamen nur undeutlich. »Ich kann ja verstehen, dass er spitz auf sie ist. Aber was findest du an diesem Spast, Schwesterchen?«
Simon zuckte wie ein getroffenes Tier und spürte, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten. Er wollte etwas erwidern, doch seine Zunge schmetterte gegen den Gaumen und hinderte ihn daran. Für ein paar Sekunden konnte er weder ein- noch ausatmen.
Jason kam jetzt so richtig in Fahrt. »Hat der Romeo dein Herz so schnell zum Brennen gebracht wie Grannys Ford? Was ist sein Geheimnis, hm? Verrätst du’s mir, Schwesterherz? Stottert er auch beim Vögeln?« Jason kicherte blöd. »Vielleicht macht dich das ja an.«
Simon spürte brennende Wut in sich aufsteigen. Am liebsten hätte er Jason eins auf die Nase gegeben, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen.
»Du bist betrunken, Jason«, sagte Julia zornig. »Und dein blödes Imponiergehabe geht mir mächtig auf die Nerven. Du bist mein Bruder und ich dachte, ich würde dich mögen. Wenn du nüchtern bist, kannst du richtig nett sein, aber wahrscheinlich bist du nur selten nüchtern.« Nun war sie es, die Simon zum Truck zog. »Komm, lass uns von hier verschwinden.«
Jason machte eine ruckartige Bewegung auf die beiden zu, aber Ainneen lehnte sich gegen ihn und so schwankten sie einen Augenblick, ohne vom Fleck zu kommen. Doch Jason stieß die junge Frau beiseite.
»Wieso bist du nicht mit deiner Mutter abgehauen?«, schrie er.
»Weil es mir auf der Ranch gefällt«, antwortete Julia.
»Glaub bloß nicht, dass du...« Jason strauchelte und Ainneen hatte Mühe, ihn aufzufangen und zu halten.
Simon und Julia erreichten den Truck. ». . . verdammter Hurensohn«, hörte Simon noch, als er auf den Fahrersitz stieg.
Er startete den Motor, schaltete das Licht ein und fuhr vom Parkplatz, einen Klumpen aus Wut im Bauch. Jasons höhnisches Gelächter dröhnte noch in seinen Ohren. All die Leichtigkeit und Freude, die er seit gestern verspürte hatte, war mit einem Mal verflogen. Dieser Dreckskerl hatte ihn erneut in Julias Gegenwart gedemütigt. Simons Lippen formten Verwünschungen, während er den Pick-up durch die Ebene lenkte. Der Lichtkegel der Scheinwerfer durchschnitt die Dunkelheit.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Julia.
»Nein«, sagte Simon. Plötzlich hatte er etwas zu verlieren und Ja-son war sein Feind. Nichts war mehr einfach. »Ich w-ünschte, er wäre tot.«
»Sag so etwas nicht«, erwiderte Julia erschrocken. »Jason ist ein Vollidiot und du solltest einfach nicht auf das hören, was er von sich
gibt.«
»Ich bin aber nicht taub, v-erdammt noch mal.«
»Es macht mir nichts aus, Simon, wenn er solche Sachen sagt.«
»Mir schon.«
»Ich weiß und es tut mir unendlich leid.«
»Dir muss es nicht leidtun.«
»Doch. Er ist mein Bruder.«
»Na, dafür kannst du ja nichts. Du kennst ihn ja noch nicht mal so lange wie ich.«
Julia seufzte. »Ich weiß auch nicht«, sagte sie, »aber ich glaube, Ja-son hat vor irgendetwas Angst.«
»Angst? Wie kommst du denn darauf?«
»Keine Ahnung. Aber eben kam er mir vor wie ein in die Enge getriebener Hund, der kurz davor war, um sich zu beißen.«
Zurück auf der Ranch, hielt Simon vor dem Trailer an und ließ Julia aussteigen. Natürlich hatte er nicht vergessen, worum er sie bitten wollte. Doch nach dem Zwischenfall mit Jason brachte er es nicht fertig, sie zu fragen.
»Gute Nacht, Simon.« Julia gab ihm einen Kuss. »Und denk einfach nicht mehr daran, okay?«
Zuerst glaubte er, sie könne Gedanken lesen, aber dann wurde ihm klar, dass sie Jason meinte und das, was er gesagt hatte. Geh nicht weg, wollte er rufen. Die Worte waren in seinem Kopf, aber er brachte sie nicht über die Lippen. Da schlug die Beifahrertür hinter Julia zu und sie verschwand in ihrem Trailer.
Am nächsten Tag beluden Boyd und Simon den Truck mit Holzpfosten, die neben dem Schuppen unter einer Plane gelagert waren, und fuhren an ein entlegenes Ende der Ranch. Sie wollten Pfähle für eine neue Koppel setzen.
Julia sah ihnen nach, bis der Truck hinter der Biegung verschwunden war. Sie hatte am Morgen keine Gelegenheit gehabt, mit Simon allein zu sprechen. Es war offensichtlich gewesen, dass er Schwierigkeiten hatte, ihr in die Augen zu sehen.
Jasons anzügliche Bemerkungen mussten Simons tief sitzendes Gefühl der Unsicherheit noch verstärkt haben. Vermutlich litt er schrecklich und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.
Sie sehnte sich nach Simon, wünschte, sie könnte seine Zweifel einfach wegküssen. Aber er war irgendwo im Gelände und würde wohl erst am Abend zurück sein.
Deswegen war Julia froh, ihrer Großmutter im Garten helfen zu können, die Arbeit lenkte sie ab. Sie pflanzten Tomaten, die Ada schon vor Tagen aus der Stadt mitgebracht hatte, banden die Pflanzen an Stöcke, hackten den trockenen Boden, jäteten Unkraut und schleppten Wasser heran. Der Bach, der aus den Bergen kam und bis jetzt über kleine Gräben Adas Gemüse bewässert hatte, führte kein Wasser mehr.
Wie eine Furie wütete die alte Frau in der Erde und Julia dachte, dass ihre Granny immer mit vollem Einsatz bei dem war, was sie gerade tat. Sie kniete in der aufgeweichten Erde und ihre kräftigen Arme waren bis zu den Ellbogen schlammverschmiert.
»Deine Mutter hat gestern Abend angerufen«, sagte Ada irgendwann beiläufig.
»Geht es ihr gut?«
»Ja. Kalifornien scheint Balsam für trauernde Witwen zu sein.«
Als Julia nichts erwiderte, hielt sie inne und sagte: »Ich hab’s nicht so gemeint.«
»Sie hat ihn geliebt«, verteidigte Julia ihre Mutter. »Aber ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als sie.«
»Das ist gut.« Ein warmes Lächeln zeigte sich auf Adas Gesicht. »Dann ist er in dir und du wirst ihn nie verlieren. Bald wirst du merken, welchen Einfluss seine Liebe auch weiterhin auf dein Leben haben wird.«
Julia holte tief Luft, als sie ein jäher Schmerz durchzuckte. Sie war jetzt seit zwei Wochen auf der Ranch ihrer Großeltern und hatte ihren Vater in keiner Minute vergessen. Aber sie war auch nicht mehr von dieser lähmenden schwarzen Trauer erfüllt, die sie in den ersten Tagen nach seinem Tod gefangen gehalten und jegliche Freude unmöglich gemacht hatte. Die Zeremonie in den Bergen hatte ihr geholfen, Abschied zu nehmen. In ihren Gedanken blickte Julia oft zurück, aber noch häufiger wünschte sie, die Zukunft sehen zu können.
»Du musst dich nicht dafür schämen, dass du wieder lachen kannst«, sagte Ada. »Lachen ist das beste Heilmittel.«
»Ach, Granny, ich vermisse ihn so.«
Ada kam auf Knien herangerutscht und umarmte Julia fest. »Ich auch, meine Kleine. Ich auch.« Schluchzer erstickten ihre Worte und Julia spürte das Beben in der Brust der alten Frau.
»Warum können Ma und ich nicht füreinander da sein?«, fragte sie, als sie sich voneinander lösten.
»Weil du es vorgezogen hast, auf deine Weise mit dem Verlust fertig zu werden, und das ist auch vollkommen in Ordnung.«
»Pa hat oft Sehnsucht nach der Ranch gehabt«, sagte Julia, »und jetzt kann ich ihn verstehen. Ich habe ihn nie gefragt, weißt du. Vielleicht wollte ich nur nicht, dass er seine Sehnsucht ausspricht, weil sie dann zu einer Sache geworden wäre, die zwischen uns gestanden hätte.«
»Das ist alles ganz schön verwirrend, nicht wahr?«
Julia nickte.
»Wenn es nach deinem Großvater gegangen wäre, hätten wir uns schon viel früher kennengelernt«, sagte Ada. »Doch eines musst du mir glauben, Julia: Du hattest immer einen Platz in meinem Herzen.« Sie stieß den Pflanzstock in den Boden. »John war so stur. Er wollte dich nur mitbringen, wenn auch seine Frau willkommen war. Doch ich wollte deine Mutter nicht hier haben. Ich habe deinem Vater sehr wehgetan mit meiner Starrköpfigkeit.« Sie seufzte. »Manchmal
vergessen Menschen, wie gern sie einander haben.«
»Jetzt bin ich ja hier.«
»Ja, das bist du. Und was auch passiert, Julia, ich bin froh, dass du da bist.«
»Das bin ich auch, Granny.«
Am Nachmittag setzte sich Ada über ihre Papiere und Julia packte ihre Waschtasche zusammen. Sie schnappte sich ein Handtuch und ein paar saubere Sachen, dann machte sie sich auf den Weg zur heißen Quelle. Die Sonne brannte vom Himmel wie jeden Tag, doch die Luft hatte sich verändert. Sie war drückend und schwül. Ganz weit im Süden entdeckte Julia dunkle Wolken. Aber die waren jeden Nachmittag da und es regnete ja doch nie.
Im Licht der Nachmittagssonne leuchtete das trockene Grün der Cortez Mountains beinahe golden. Nachdem sie die Beifußebene hinter sich gelassen hatte, hielt Julia Ausschau nach Tobacco, dem Appaloosa-Hengst, aber weder er noch die anderen Pferde waren irgendwo zu sehen.
Oben angekommen, füllte sie die Wanne und stieg in das Wasser, das gewärmt war vom Herzen der Erde. Julia wusch ihre Haare und schrubbte sich gründlich, dann lehnte sie sich wohlig zurück, gebadet in Sonnenlicht. Sie ließ den Tag in ihre Poren dringen und atmete die satten Gerüche des Landes.
Julia war froh, auf der Ranch geblieben zu sein. Sie liebte ihren Großvater Boyd und zwischen ihr und ihrer Granny wuchs langsam etwas, das einer Art von spröder Zuneigung gleichkam.
Und Simon? Simon hatte ihre Traurigkeit aufgefangen und ihr das verloren gegangene Selbstvertrauen zurückgegeben. Es war sein stilles Wesen. Was immer er sagte oder tat, war etwas Besonderes. Ein Pfeifen – Lady in Black – holte Julia aus ihren Gedanken. Ihr blieb keine Zeit darüber nachzusinnen, wie sie sich aus dieser Situation retten könnte, denn schon tauchte Simon vor ihr auf, ein ver
waschenes rotes Handtuch über der Schulter. Er war genauso erschrocken wie sie und schien vollkommen blockiert, sodass kein einziges Wort über seine Lippen kam.
Julia kreuzte die Arme vor der Brust und rutschte ein Stück tiefer ins Wasser. Nachdem Simon seine Sprache wiedergefunden hatte, sagte er: »Tut mir leid, ich wusste n-icht . . .«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn zum ersten Mal. »Ich glaube dir. Aber du könntest wenigstens wegsehen.«
Er drehte sich gehorsam um, machte jedoch keine Anstalten, wieder zu verschwinden. Wie angewurzelt stand er da.
Julias Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie war so erfüllt von ihren Gefühlen für Simon, dass es in ihr summte wie in einem Bienenhaus. Was sie empfand, stimmte nicht mit ihren Worten überein. In Wahrheit wollte sie, dass er sah, was noch nie ein Junge gesehen hatte. Sie wollte, dass er sie schön fand. Und sie begriff, dass die erstaunlichsten Dinge passieren, wenn man überhaupt nicht mit ihnen rechnet.
Julia atmete tief durch. »Na ja«, sagte sie schließlich. »Wenn du schon einmal da bist, kannst du ja auch mit reinkommen.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Simon sich wieder zu ihr umdrehte. Sein unsicherer Blick suchte ihre Augen. Als ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubt hätte.
»Beeil dich«, sagte Julia. »Bevor ich kalte Füße kriege und es mir anders überlege.«
In Windeseile fielen seine Kleider zu Boden und Simon saß ihr gegenüber in der Wanne. Das Wasser war nicht mehr wirklich sauber, aber das schien ihn nicht zu stören. Er sah sie an, jetzt mit einem Strahlen im Gesicht, wie sie es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte.»Hey«, sagte sie. »Schau mich nicht so an.«
»Wo soll ich denn sonst hinschauen?«, fragte er, ehrlich verwundert.
Da lachte sie.
Sie kniete sich vor ihn und legte ihre Finger auf seine Augen. Dann gab sie ihm einen langen Kuss. Simons sehnsüchtige Hände umfassten ihre Brüste. Er streichelte sie sanft und mit einer so ehrfürchtigen Scheu, dass ihr ganz schwindlig wurde. Und so unwirklich alles auch schien: Julia war vollkommen überwältigt von ihrer Liebe zu diesem Jungen, den sie erst so kurze Zeit kannte.
Simon griff nach ihren Handgelenken und nahm langsam ihre Hände von seinen Augen. Wie dunkel sie waren, fast schwarz, sodass Julia die Pupillen kaum erkennen konnte. Als er sie zu sich heranzog, um sie noch einmal zu küssen, schloss sie ihre Augen, weil sein Blick so ungehindert in ihr Inneres vordrang, dass sie glaubte, es nicht länger aushalten zu können.
»Du frierst ja«, sagte er auf einmal besorgt. »Ist dir kalt?«
Julia hatte tatsächlich eine Gänsehaut und nun spürte sie auch den Wind, der über ihre nasse Haut strich und sie frösteln ließ.
»Ein bisschen. Ich bin ja auch schon eine Weile drin. Aber wir können heißes Wasser zulaufen lassen.« Sie griff nach dem weißen Rohr, doch Simons erschrockener Blick ließ sie innehalten. Es mochte Jahre her sein, aber die Panik vor heißem Wasser war ihm ganz offensichtlich geblieben.
»Mach du das, okay?«
Simon ließ vorsichtig heißes Wasser zulaufen und zum ersten Mal betrachtete sie offen das Ausmaß seiner Verbrennung. Ein Stück Hals, die ganze Schulter und der Oberarm waren von wulstigem Narbengewebe überzogen.
»Sie ist hässlich«, sagte er verlegen, als er ihren Blick spürte.
»Du bist schön«, entgegnete Julia. Das stimmte. Sogar die Narbe hatte eine gewisse Schönheit an sich, denn sie war ein Teil seines Wesens. Das war verrückt. Oder war es Liebe?
Simon hob den Kopf und Julia merkte, wie er mit seinem unterschwelligen Misstrauen kämpfte. Aber das Vertrauen siegte.
»Und du spürst sie wirklich nicht mehr?«, fragte sie.
»Manchmal spannt das Narbengewebe.«
Simon tauchte unter. Vermutlich hatte er genug von der ungewohnten Aufmerksamkeit, die seinen Körper betraf. Weil Simon Wasser in den Ohren hatte, war Julia die Erste, die das Motorengeräusch hörte. Der braune Truck quälte sich keuchend den steilen Berg hinauf. Mit einem Satz war sie aus der Wanne, rubbelte sich notdürftig trocken und schlüpfte in ihre sauberen Sachen.